Mein lieber Kollege und Freund Christian Heuer wollte ursprünglich einen Kommentar zu meinem Eintrag verfassen. Dies ist so gut geworden, dass es ein eigenes Thema verdient. Christian Heuer wird von nun an regelmäßig auf diesem Blog posten. Christian, herzlich willkommen!
THINK – publiziert utopisch!
von Christian Heuer
ich denke, dass es hier gar nicht um das infragestellen der digitalisierung an sich geht, sondern vielmehr um das kulturell tradierte abwehrverhalten von menschen und institutionen gegenüber neuem an sich. hier spielen die angst vor macht- und identitätsverlust und die scheinbare preisgabe mühsam errungener autorität durch wissenskontrolle eine zentrale rolle. immer schon standen sich an medientechnologischen wegscheiden „apokalytiker“ und „integrierte“ gegenüber (so bereits Umberto Eco 1987). heute eben „digital natives“ gegen „digital immigrants“. das internet als kommunikationsmedium, bzw. die digitalisierung und vernetzung von wissen im netz, hebt die klassische arbeitsteilung zwischen produzenten und konsumenten und damit die technische differenzierung zwischen sender und empfänger auf. letztlich erlebt dadurch aber auch das machtverhältnis zwischen gate-keeper und rezipienten eine grundlegende wandlung. der bereits in den zwanzigerjahren vom kulturtheoretiker walter benjamin geforderten „expropriation der medienapparate durch die massen“ war man noch nie so nah wie heute. die klassischen analogen medien werden eingebunden in digitale medienkontexte, deren inhalte können ergänzt, verändert, gelöscht und neu geschrieben werden. die dabei auftretenden angstzustände sind die unvermeidbaren Phasen, die einen „generationenwechsel“ (michael giesecke), mit den damit verbundenen ablösungserscheinungen, begleiten. die angst vor der digitalisierung und das festhalten an den „mythen der buchkultur“ (giesecke 2002), so z.B. die angst vor einem „missbrauch der quellen“ im digitalen medienverbund, hat somit m.e. nach nicht zuletzt auch machtökonomische gründe. es geht dabei um fragen der deutungshoheit und um das festhalten von sich verflüssigenden traditionen (vgl. hierzu als beispiel den artikel von uwe jochum: urheber ohne recht. wie staat und bürokratie mittels open access wissenschaftler enteignen. in: lettre international 87 (2009), s. 7-12).
dass die disziplin der geschichtsdidaktik den gleichen ängsten unterliegt, wird schon dann deutlich, wenn man sich die bisherigen arbeiten zum historischen lernen im virtuellen raum durchliest, die zum teil von einem medien- und kulturpessimistischen duktus durchdrungen sind, dass man sich über die fehlende digitale vernetzung geschichtsdidaktischer veröffentlichungen nicht wundert. Oder um es fachspezifisch zu formulieren: den meisten geschichtsdidaktikerInnen fehlt die gattungskompetenz, bzw. die fehlende einsicht in die gattungserwartungen der einzelnen medien. das internet ist eben kein buch und möchte auch gar keines sein!
nun aber ins feld zu führen, dass es bislang keine geschichtsdidaktischen arbeiten in digitaler form gibt, wie dies becker in seinem beitrag getan hat, geht an der „realität“ wohl vorbei, ist aber dennoch als polemik begrüssenswert. wer aber bitte schön hat denn ein interesse an geschichtsdidaktischen veröffentlichungen in nicht-digitalisierter form? die absatzzahlen aller geschichtsdidaktischen zeitschriften gehen zurück und auch die einschlägigen monographien und sammelwerke werden doch nur marginal und auch nur in einigen fällen von der eigenen zunft wahrgenommen. da würde ich mir als verlag doch auch überlegen, warum ich diese produkte auch noch als ebook anbieten sollte.
hier böte selbstverständlich die digitalisierung der inhalte oder vielmehr die anpassung wissenschaftlicher publikationen an die neuen lesegewohnheiten eine grosse chance. publizieren im web 2.0 bedeutet aber eben nicht das zur verfügung-stellen von inhalten in digitaler form, sondern vielmehr müssen neue formate, plattformen und medienverbünde entwickelt und kreiert werden, die inhalte anders - eben in netzhafter struktur und im open access - transportieren.
das aber ist längst keine frage der technik. denn nicht zuletzt müssen sich dafür denk- und eben auch schreibgewohnheiten ändern und das braucht eben seine zeit und vor allem menschen, die sich dieser neuen herausforderungen stellen und zunächst einmal konzepte und möglichkeiten entwerfen und ausprobieren: „the machine is us!“ (michael wesh). es gilt die digitalisierung zu gestalten und nicht darum sie aufzuhalten bzw. ihr mit protesten wie z.b. dem „heidelberger apell“ zu begegnen. die digitalisierung und das internet sind keine werkzeuge und medien im klassischen sinn. die digitalisierung spinnt netze, in denen sich bildungs- und subjektivierungsprozesse vollziehen (vgl. hierzu die gerade erschienene studie von birgit richard u.a.: flickernde jugend – rauschende bilder. netzkulturen im web 2.0. bielefeld 2010) und in denen wissenschaftliches publizieren anders gestaltet werden muss, wenn man wissenschaftlichkeit weiterhin mit den begriffen öffentlichkeit, kommunikation und pluralistische konkurrenz definieren möchte: „was im moment einfach fehlt, ist die schrägheit. seid nicht so realistisch, denke und lebe utopisch, technopolitik oder nicht. was wir jetzt brauchen, sind bewegungen, technik haben wir genug.“ (geert lovink). Dem ist nichts mehr hinzuzufügen ausser der appell: THINK!
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